
„Ich wollte die Familie nicht zerstören“
In der Schule gemobbt, vom Stiefvater missbraucht, das Gefühl, im falschen Körper zu stecken: Flynn greift zu Drogen, um Kummer und Konflikte zu vergessen. Im Immanuel Therapiezentrum Röthof will der 21-Jährige nun zurück ins Leben finden.
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Es ist ein kalter Dezembertag, als Flynn auf dem Schmalkalder Röthof ankommt. Der feuchte Nebel hängt schwer über den Feldern, der Duft von feuchter Erde liegt in der Luft. Das aufgeregte Gegacker der Hühner, das diese Ruhe unterbricht, ist nicht aufdringlich. Im Gegenteil. Es verleiht diesem Ort etwas ganz Besonderes, etwas Lebendiges.
Mit leichtem Gepäck und einer tiefen Erschöpfung in den Augen betritt der 21-Jährige das Immanuel Therapiezentrum, das ihm in den kommenden Wochen und Monaten, vielleicht auch Jahren, ein Zuhause sein wird. Sein möglicherweise letzter Versuch, ein Leben fern von Drogen, Angst und Schmerz zu finden.
Flynn wurde 2003 in Weimar geboren. Elf Jahre später zieht die alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern nach Weißensee. Zu ihrem neuen Partner. In der Kleinstadt wird der Junge nicht heimisch. In der Schule gemobbt, fühlt er sich nie richtig zugehörig, sein Körper und sein Geschlecht passen nicht zu dem, was er tief in sich spürt. Der Elfjährige entwickelt eine Essstörung. „Nicht etwa, weil ich zu dick war“, erzählt Fynn. Vielleicht sei es ein Versuch gewesen, die Kontrolle über den eigenen Körper zurückzugewinnen. Oder um sich herum einen Schutzwall aufzubauen. Denn der Minderjährige wird von seinem Stiefvater missbraucht. Fünf Jahre lang, körperlich und emotional. Fünf Jahre lang gefangen in einer Welt aus Angst, Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Eine Mischung aus Zuneigung und Schuldgefühlen. Flynn sagt nichts. „Meine Mutter war nach wechselnden Partnerschaften richtig glücklich“, begründet Fynn sein langes Schweigen. „Ich wollte unsere Familie nicht kaputt machen.“
Durch Zufall entdeckt die Mutter den sexuellen Missbrauch. Flynn, zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre jung, wehrt sich endlich. Er zeigt den Stiefvater an. Der bekommt dreieinhalb Jahre Gefängnis. Das Urteil fühlt sich für den jungen Mann nicht gerecht an. Ein milder Richterspruch im Vergleich zu seinem lebenslangen Leid.
Auf Wolke sieben
Die Verwirrung und Einsamkeit führen Flynn immer weiter in eine Spirale der Selbstzerstörung. „Ich wollte vergessen, die Probleme verdrängen. Schweben wie auf Wolke sieben.“ Er entflieht dem Einfluss des Elternhauses und zieht nach Erfurt. Hier findet der Jugendliche, der sich schwer sozialisieren kann, neue Freunde – und den Zugang zu Drogen. Cannabis, Marihuana, Amphetamin. „Ich habe konsumiert, was ich in die Hände bekommen habe.“ Die Suchtmittel bieten ihm die einzige Flucht, die er kennt – eine kurze Erlösung von der inneren Unruhe, den bösen Träumen, die ihn verfolgen.
Partys, gemeinsame Ausflüge – mit dem Neun-Euro-Ticket reist Flynn durch Deutschland. Rückblickend eine schöne Zeit, sagt er, mit einem Lächeln im Gesicht. Der Zusammenhalt, auch wenn es dem einen oder anderen mal richtig Scheiße geht, habe ihm gutgetan. Zwei Jahre lang schlägt sich der kleine, schmächtige Jugendliche so durchs Leben. Versuche, von der Sucht loszukommen, scheitern.
Bis er einen Mann kennengelernt. Dieser will ihm helfen, clean zu werden. Sie ziehen zusammen. Drei Monate hält Flynn durch. Dann der Rückfall. Vorwürfe, Unverständnis, Auszug. Ein Vierteljahr lebt er auf der Straße, schläft in der Hängematte. Seine Sachen hat er bei Freunden gebunkert. „Hin und wieder konnte ich bei ihnen übernachten.“ Seine Drogensucht finanziert Flynn unter anderem durch den Verkauf gebrauchter Unterwäsche. Zudem bezieht er eine kleine Opferrente.
Dann kommt der Moment, in dem ihm klar wird, dass es so nicht weitergehen kann. „Ich wollte weg von den Drogen“, sagt der 21-Jährige. Er sucht sich Hilfe in einer Sozialeinrichtung. Es folgen ein Entzug und eine Langzeittherapie. Da anschließend kein Platz im sozialtherapeutischen Wohnen frei ist, zieht der junge Mann vorübergehend nach Leipzig in eine Adaptionseinrichtung. Ein Übergang, um die Wartezeit zu überbrücken.
Leben und Arbeiten auf dem Röthof
Auf der Suche nach Alternativen stößt Flynn auf das Immanuel Therapiezentrum Röthof in Schmalkalden. Zum Glück ist gerade ein Platz frei. Hier, umgeben von Tieren und der Natur, will er zur Ruhe kommen, sich neu entdecken, fit werden für ein selbstständiges Leben.
Auf dem ehemaligen Gutshof fühlt sich Flynn willkommen. Auch von seinen Mitbewohnern, die alle eine Suchtvergangenheit haben. Viele sind wesentlicher älter, manchmal sprachlos, wenn der 21-Jährige seine Geschichte erzählt. „Sie akzeptieren mich so, wie ich bin.“ Die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft tut ihm gut. Er spürt sich wieder, die feste Tagesstruktur gibt Halt und Orientierung. Besonders die Begegnung mit den Tieren hilft ihm. Pferde, Ponys, Esel. Sie urteilen nicht, stellen keine Fragen. Sie fordern nur Ehrlichkeit und Fürsorge. Der junge Mann findet Trost in der Routine, die seinen ruhelosen Geist besänftigt. Seit kurzem hat er eine neue Mitbewohnerin: eine Katze. Und eine neue Leidenschaft: „Ich koche gern und ausschließlich vegan. Tote Tiere sind für mich tabu.“
Ein schwerer Weg
Flynn reflektiert offen sein junges Leben. Manchmal wirkt es, als würde er das Geschehene von außen betrachten, als sei es nicht ihm selbst, sondern einer anderen Person widerfahren. Immer wieder dreht er einen schlichten Ring in seinen Händen, vielleicht, um sich abzulenken oder um Halt zu finden. Doch trotz seiner Aufregung schafft er es, seine Geschichte zu erzählen. „Trotz aller Fortschritte kommen hin und wieder immer noch die dunklen Gedanken und das Verlangen“, gibt Flynn zu. Zum Beispiel, wenn er Pfefferminztee riecht. Den gab es immer in Weißensee. Doch die bösen Träume werden weniger. Und er lernt, was Liebe wirklich bedeutet. Eine Liebe ohne Bedingungen und Gegenleistungen, wie sie der Stiefvater verstanden haben wollte.
Flynn hat Träume. Er würde sich gern zum veganen Koch ausbilden lassen. Ein Praktikumsplatz wäre ein guter Anfang, sagt er. Aber schwer zu bekommen in einem Land, wo die Bratwurst als Kult-Spezialität zelebriert wird. Heilpraktiker zu werden, kann er sich auch gut vorstellen. Vor allem aber möchte sich der junge Mann ein selbstständiges, selbstbewusstes, eigenverantwortliches und suchtfreies Leben aufbauen – mit seinem neuen Partner, der in Berlin wohnt und schon zu Besuch auf dem Röthof war. Flynn weiß, es wird kein leichter Weg sein. Aber er ist bereit, ihn zu gehen. Mit Hilfe vieler Menschen, die ihn dabei begleiten.
Susann Schönwald, Südthüringer Zeitung
Foto: Michael Bauroth