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Kevin liebt die Arbeit mit den Esel. Den Umgang mit ihnen lernt er im Alltag. Foto: michael bauroth Kevin ist 28 Jahre alt. Wenn man ihn heute auf dem Röthof sieht, wie er mit ruhiger Hand die Esel striegelt und liebkost, wie er sie frühmorgens auf die Weide führt und ihnen gut zuredet, würde man kaum glauben, welchen Weg er hinter sich hat. Einen Weg voller Dunkelheit, Kälte und Angst – aber auch einen, der heute langsam wieder ins Licht führt. Kevin wurde in ein Leben geboren, das von Anfang an gegen ihn zu arbeiten schien. An seine Kindheit in einem kleinen Dorf im Wartburgkreis hat er kaum schöne Erinnerungen. Gewalt war Alltag. Liebe, Wärme oder Geborgenheit – das hat er nie wirklich kennengelernt. Seine Mutter zeigte ihm keine Zuneigung. Von seinem leiblichen Vater kannte er bis vor fünf Jahren nur den Namen. Beim Surfen im Netz sei er zufällig auf sein Profil gestoßen, erzählt der junge Mann. „Komplizierte Verhältnisse.“ Mehr möchte er über seinen Erzeuger nicht sagen. Der Stiefvater, der ihn großzog, ließ ihn spüren, dass er unerwünscht war. Das schwarze Schaf der Familie – und niemand widersprach ihm. Dabei hätte er so gern zur Familie dazugehört, wie seine beiden jüngeren Halbgeschwister. „Ich habe sie sehr gemocht“, sagt Kevin leise. Die Förderschule, die er zwölf Jahre besuchte, war für ihn hingegen ein seltener Ort der Ruhe. Hier fand er zum ersten Mal etwas, das sich fast nach Zugehörigkeit anfühlte. Die Fächer Hauswirtschaft, Geschichte und Sport lagen ihm ganz besonders. Sein Traum nach dem Schulabschluss: Beikoch werden.

Von der Mutter vor die Tür gesetzt

Mit 18 Jahren Kevin zog nach Hannover, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Weit weg von allem, was ihn verletzt hatte. Doch das Leben im Internat und die Sehnsucht nach seinen Geschwistern holten ihn zurück. Schon nach einem Jahr brach der hochgewachsene junge Mann die Ausbildung ab. Mit 19 stand er wieder zu Hause – oder besser gesagt: vor der Tür. Seine Mutter schmiss ihn raus. Von da an war er obdachlos. Was folgte, waren Jahre der Verlorenheit. Er lebte im Wald. Kein trockener Schlafplatz, keine Küche, keine Toilette. Immer auf der Hut, immer in ständiger Angst, vertrieben oder eingesperrt zu werden. Der an sich schon scheue Jugendliche mied die Menschen, ging nur in die Stadt, um sich sein Bürgergeld abzuholen, mit dem er sich notdürftig über Wasser hielt. Alkohol, dem er seit der Jugendweihe verfallen war, wurde nun sein ständiger Begleiter. Körperpflege, Struktur, Selbstachtung – alles verlor an Bedeutung. Seine Gedanken kreisten um Suizid. Er verletzte sich selbst. Zweimal kam der Junge in die Psychiatrie – das erste Mal mit 17, ein ganzes Jahr lang war er dort. Immer wieder verlor er den Halt. Seine Mutter hatte ihn bereits abgeschrieben, erzählt, ihr Sohn sei tot. Zwischenzeitlich keimte etwas Hoffnung auf. Kevin bezog die Wohnung eines Freundes. Doch ein Jahr später wurde ihm diese wegen Mietrückständen gekündigt. Wieder wurde der Wald sein Zuhause. Einmal wurde er, völlig zusammengebrochen, im Wald gefunden und mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht. Kevin kann sich nur noch daran erinnern, dass er in einem Krankenhausbett aufgewacht ist. Kompletter Filmriss. Vielleicht war das sein Wendepunkt. Denn dort begann etwas Neues.

Auf dem Röthof

Seit fast drei Jahren lebt Kevin nun im Wohnheim des Immanuel Therapiezentrums auf dem Röthof in Schmalkalden. Anfangs war er still, ängstlich, voller Misstrauen. Seine wenigen Habseligkeiten in einer Kiste verpackt. Das Gefühl, schnell verschwinden zu müssen, konnte er nur langsam abschütteln. Jahre des Überlebens hatten seine Seele eingefroren. Aber hier – inmitten der Natur, inmitten von Menschen, die nicht wegsehen, die ihm zuhören – beginnt er langsam aufzutauen. Es sind vor allem die Tiere, die dem jungen Mann helfen. Die Begegnung mit den sanftmütigen Eseln Susi, Tina, Speedy & Co wird zur Therapie. Von früh bis spät kümmert er sich um die Grautiere, denen man nachsagt, einen eigenen Kopf zu haben. Esel, hat sich Kevin angelesen, haben einen starken, unabhängigen Charakter, sie sind soziale Tiere, bevorzugen die Gesellschaft von Artgenossen, sind aber gleichzeitig intelligent und lernfähig. Der junge Mann füttert die Tiere, pflegt und beobachtet sie. Er kennt ihre Eigenheiten, achtet auf jede Veränderung. Die Esel sind nicht nur Arbeit für ihn – „sie sind meine Freunde“, sagt Kevin. Vielleicht auch deshalb, weil sie menschliches Verhalten im Umgang mit Stress und Druck gut spiegeln können. Wenn der junge Mann nach Arbeit und Therapie Feierabend hat, erwartet ihn in seinem Zimmer, das er sich mit einem Mitbewohner teilt, seine Katze. Sie schläft bei ihm, sie spürt, wenn er unruhig ist. Und sie ist da, wenn es nachts manchmal wieder dunkel wird in seinem Kopf. Auf jeden Fall ist der Vierbeiner ein Frühaufsteher. Ein kurzes Lächeln huscht über sein Gesicht.

Pläne für die Zukunft

Noch immer trägt der 28-Jährige viel in sich: Erinnerungen, Ängste, die Sucht, die immer wieder klopft. Die Suizidgedanken sind weniger geworden. Er geht in Therapie, redet, verarbeitet. Und zum ersten Mal seit Langem hat er einen Plan: Er möchte Landschaftsgärtner werden. Einen Beruf, der draußen ist, lebendig, verbunden mit Natur und Arbeit. Der junge Mann weiß: Das wird nicht einfach. Aber er ist nicht mehr allein. Er hat ein Recht auf einen Platz im Leben. Nicht nur das. Er beginnt wieder, Kontakt zu Menschen aufzunehmen. Zwei Mal in der Woche geht Kevin ins Städtchen zum Einkaufen. Wenn die Kinder im Rahmen des Projekts „ Ponykids“zur Reittherapie auf den Röthof kommen, ist er voll bei der Sache und unterstützt die Therapeutin. Den Kontakt zu seiner Familie hat er abgebrochen – auch zu den Geschwistern, die er einst sehr geliebt hat. Es war ein schmerzhafter, aber notwendiger Schritt. „Ich muss auf mich achten“, sagt er. Und vielleicht ist genau das die wichtigste Lektion, die er gerade lernt.

* Den Namen des jungen Mannes hat die Redaktion auf seinen Wunsch hin geändert.

Susann Schönwald, Südthüringer Zeitung

Foto: Michael Bauroth