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Wer zu DDR-Zeiten mit Irokesenschnitt, Lederjacke und Hundehalsband durch die Straßen lief, wurde schon mal angespuckt, drangsaliert, schikaniert oder grundlos von der Polizei verhaftet. Stasi-Chef Erich Mielke beschimpfte die jungen Leute einst als „dekadent“ und „Dreck aus dem Westen“. Nein, es war nicht sehr gemütlich und schon gar nicht schicklich, im Arbeiter- und Bauernstaat ein Punk zu sein.

Michael Ihlo, 55 Jahre, war ein Punk. Kein politisch motivierter, wie er sagt. Seine zwei älteren Brüder gehörten zur Szene, die gegen den Staat und das Eingesperrtsein rebellierte. „Ich dachte, das muss so sein.“ Wie der Alkohol offenbar dazu gehörte. Ein Punker muss trinken. 72 Pfennig kostete in der DDR die Flasche. Das Geld kam von Muttern, erzählt Ihlo im unverkennbaren Magdeburger Dialekt, eine Mischung aus ostelbischem Plattdeutsch und sächsischen Einflüssen.

Bier, Rotwein, Wermut

Sein erstes Bier kippte Michael Ihlo mit 13 Jahren, vor der Kaufhalle in einem Problemviertel. Hier traf sich regelmäßig die Szene. Mit 14 Jahren kam er das erste Mal mit einem „Gockel“ auf dem Kopf nach Hause. „Meine arme Mutter“, sagt er, inzwischen selbst Vater von sieben leiblichen und drei angenommenen Kindern.

Nach dem Abbruch der 6. Klasse verbrachte der Jugendliche viel Zeit auf der Straße. Bier, Wermut und Rotwein gehörten zum Alltag. „Es war ein langsames Gleiten in die Sucht“, reflektiert der sportliche Typ. Seine markanten Tattoos fallen sofort ins Auge.

In der DDR war jeder, der physisch und psychisch in der Lage war, einer Arbeit nachzugehen, dazu gesetzlich verpflichtet. Michael wurde zum Straße fegen verdonnert. Für eine kurze Zeit war er in einem Krankenhaus untergekommen. Eine Krankenschwester habe sich damals um ihn gekümmert, erinnert sich Ihlo, leider erfolglos.

Zwangseinweisung in Jugendwerkhof

Der Staat griff ein. Mutter und Sohn wurden regelmäßig vorgeladen, mehrmals sogar abgeholt. „Ich sollte sozialisiert werden“, erinnert sich Ihlo. Nachdem nichts gefruchtet hatte, wurde der Jugendliche Mitte der 1980er-Jahre in den Jugendwerkhof Gerswalde, Kreis Templin, eingewiesen. Zu DDR-Zeiten ist diese Einrichtung berüchtigt für den geschlossenen Jugendwerkhof. In diesen werden Kinder und Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren eingewiesen, welche die Heimordnung „vorsätzlich schwerwiegend und wiederholt verletzen“. Hier muss er als Betonwerker arbeiten.

Kurz vor dem Mauerfall wird eine Einweisung in den Jugendwerkhof Torgau angeordnet. Gleich neben der Brücke über die Elbe, an der sich Amerikaner und Sowjets 1945 die Hand reichten. Hier war bis zum November 1989 der geschlossene Jugendwerkhof untergebracht. Er galt als Endstation im System der Spezialheime der DDR. Formal war „Torgau“ eine Einrichtung der Jugendhilfe, in der Realität ein Zuchthaus. Hier muss Ihlo Betonsteine gießen. Sport und mentale Stärke haben ihm geholfen zu überleben.

Die eigene Balance finden

1989 die Wende. Es folgte ein Jahrzehnt voller Abstürze. Drogen, Alkohol. „Zehn Jahre Wein, Weiber und Gesang“, fasst der Magdeburger diese Zeit zusammen. Arbeit spielte keine Rolle. Der Punker hat keinen Berufsabschluss. Anfang der 1990er-Jahre lebt er in Berlin, in der Rigaer Straße 94, im am längsten besetzten Haus. 2021/2022 muss Ihlo ins Gefängnis, danach schießt er sich ab. Es war Weihnachten.

In der Entzugsklinik Römhild fasst der Familienvater einen Entschluss: Kein Alkohol mehr, keine Drogen. Nach der Entlassung bewirbt er sich für einen Platz im Immanuel Therapiezentrum Röthof in Schmalkalden. Zu dem Zeitpunkt war allerdings nichts frei. Leiterin Diana Wolff bekommt Michael Ihlo in einer Wohngemeinschaft im Soldatensprung unter.

Doch das war nicht sein Ort. Die Gefahr war überall – Drogen, Schmerzmittel, alles, was man nicht braucht. Am 1. September 2023 ergab sich die Chance, auf den Röthof zu ziehen. Aus der Langzeittherapie kommend, mit mentaler Stärke, war er bereit, das Maximum aus seiner Genesung herauszuholen.

Schmalkalden als neuer Lebensmittelpunkt

Heute ist der Röthof für den 55-Jährigen weit mehr als ein Wohnheim. Verantwortung übernehmen, auch für die Bewohner, Gartenarbeit, die Pflege von Tieren, kleine Führungsrollen – all das gibt ihm Orientierung und macht Freude. „Hier habe ich endlich gelernt, was ein erfüllter Tag ist“, sagt er. Die Freiheit, die er als Punker suchte, lebt er nun auf eine Weise aus, die Stabilität gibt, statt zu zerstören.

Seine Familie in Magdeburg bleibt ein wichtiger Teil seines Lebens: seine pflegebedürftige Mutter, Kinder und Enkel. Doch die Besuche sind herausfordernd. Alte Milieus, alte Gewohnheiten und alte Versuchungen lauern überall. Wie das Gedankenkarussell, das ständig in seinem Kopf kreist, vor allem seit er weiß, dass sein 22-jähriger Sohn, der „Bengel“, im Gefängnis einsitzt.

„Ich muss dann meine innere Stärke spielen lassen, sonst fällt man schnell zurück“, sagt Michael Ihlo. Trotzdem sind diese Kontakte essenziell, um Verbindung zu halten und Verantwortung zu spüren – auch für sich selbst.

Zurück in die Heimat zu gehen, kann sich der 55-jährige Freigeist nicht vorstellen. Am liebsten würde er für immer auf dem Röthof bleiben, „hier ist alles perfekt“.

Susann Schönewald, Südthüringer Zeitung

Foto: Michael Bauroth