
Zwischen Straße, Sucht und Stadion
Ein Leben im Schatten des Alkohols, geprägt von Gewalt, Einsamkeit und dem langen Weg zurück zu sich selbst. Uwe Clemens (61) erzählt,was ihn zerstört hat – und was ihn wieder aufbaut. Und welche Rolle der Röthof in Schmalkalden dabei spielt.
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Das Feierabendbier, der Schnaps, der Wein – Uwe Clemens ist damit aufgewachsen. Der Alkohol gehörte zu seiner Kindheit, war Lebensbegleiter und Hilfsmittel für alles. Inzwischen ist er 61 Jahre alt und seit etwa anderthalb Jahren trocken. Der Röthof in Schmalkalden, sagt der gebürtige Geraer, habe ihn vor dem endgültigen Absturz gerettet. Mittlerweile das zweite Mal. Vor 14 Jahren hatte der hoch aufgeschossene Mann mit den grauen schütteren Haaren schon einmal versucht, auf dem ehemaligen Bauerngut festen Boden unter die Füße zu bekommen. In einer Wohngemeinschaft in Leipzig. Doch zurück im Alltag fiel er in alte Muster zurück. „Ich war total unten“, erinnert sich Uwe Clemens. Mehr möchte er über diese Zeit in Leipzig nicht sagen.
Wir sitzen im Gruppenraum des sozialtherapeutischen Wohnheimes des Immanuel Therapiezentrums Röthof. Die großen Fenster lassen die wärmenden Sonnenstrahlen herein, das Auge ruht auf weiten Wiesen und Wäldern, auf blühenden Apfel- und Kirschbäumen. Ziegen und Schafe knabbern am ersten frischen Grün. Auf dem Hof gackern hunderte Hühner. Natur und Idylle direkt vor der Haustür.
Uwe Clemens sitzt mit dem Rücken zum Fenster. Hin und wieder knetet er seine Hände. Stück für Stück, Finger für Finger. Er ist kein Mann der großen Worte. Ruhig auf dem Stuhl zu sitzen, ist nicht sein Ding, Freizeit ein Fremdwort. Ihn drängt es nach draußen, zu seinem Tieren, um die er sich kümmert. Das lenkt ab. Von den dunklen Gedanken, die ihn vor allem nachts heimsuchen. Von den Kränkungen, Demütigungen und Schlägen, die er seit Kindertagen ertragen musste.
Zurückhaltend, vorsichtig, ein Stück weit distanziert erzählt Uwe seine Geschichte. Nicht, um Mitleid zu bekommen – sondern um zu zeigen, dass Alkoholismus keine Charakterschwäche ist. Dass niemand von sich aus beschließt, süchtig zu werden. Dass hinter jeder Abhängigkeit fast immer eine Geschichte steht: von Gewalt, von Vernachlässigung, von tiefem Schmerz. So wie bei ihm.
Uwe Clemens' frühe Begegnung mit Sucht und Isolation
Uwe Clemens ist zehn Jahre alt, als sein Vater stirbt. Er beschreibt ihn als einen gewalttätigen Alkoholiker, der seinen Sohn offenbar nicht mochte. Den beiden Schwestern hingegen sei jeder Wunsch erfüllt worden. Zwei Wochen nach dem Tod des Familienoberhaupts sitzt der Nachfolger am Tisch. „Das blanke Ebenbild meines leiblichen Vaters.“ In diesem Umfeld begegnet dem Jungen der Alkohol das erste Mal – nicht als Gefahr, sondern als etwas völlig Normales. Alkohol gehört zum Alltag, er ist da wie das Abendessen oder das Wetter. Und so beginnt auch Uwe zu trinken. Nicht aus Abenteuerlust, sondern weil es dazugehört – weil keiner sagt, dass es falsch ist.
Uwe ist zehn Jahre alt, als ihn seine Mutter vor die Tür setzt. Er geht mit dem Gefühl, unerwünscht zu sein, wertlos, nicht gewollt. Etwa eine Woche lang treibt sich das Kind auf der Straße herum. Bei der Oma mütterlicherseits findet er schließlich Unterschlupf. Dort erlebt der Junge zum ersten Mal, was es bedeutet, geliebt und angenommen zu werden. „Da habe ich es gut gehabt“, sagt Uwe im Rückblick.
Es ist eine kurze, aber prägende Zeit. Das DDR-System fängt ihn nicht auf. In der Schule erkennt niemand seinen Schmerz, seine Not. Keine Förderung, keine Hilfe – der Jugendliche bleibt ein Außenseiter, leise, allein. Er legt sich einen Panzer zu. Nicht einmal der Großmutter kann sich Uwe öffnen.
Mit 16 Jahren zieht er bei der Oma aus. In Gera bekommt er eine eigene Wohnung. Der junge Mann will Maurer werden. Doch seine schulischen Leistungen reichen nur für eine Ausbildung zum Teilfacharbeiter Ausbaumaurer. Auf dem Bau wartet der Alkohol schon wieder: das Feierabendbier, das der Lehrling „mal eben holt“. Niemand stellt Fragen. Niemand sagt: Pass auf. Alkohol ist Kultur, ist Gewohnheit. Es braucht keine Gründe – und es wird nie über die Folgen gesprochen. Irgendwann endet alles in der Sucht.
Sein Leben gerät aus der Bahn. Er jobbt hier und da, verliert die Wohnung, seinen Halt. Zwölfeinhalb Jahre lebt er auf der Straße, wird überfallen, geschlagen. Zwischenzeitlich sperrt ihn der DDR-Staat wegen asozialen Verhaltens weg. Aus dieser Zeit hinter Gittern stammt das Tattoo auf seinem linken Oberarm: ein Frauenbildnis. Entstanden aus Langeweile, sagt der 61-Jährige. Ohne jegliche Bedeutung. Alkohol wird überlebensnotwendig. Er schützt gegen Kälte, Hunger, Angst. Nur mit einem Freund zusammen hält er durch – sie betteln, trinken, vergessen. Es folgen Therapien, Entgiftungen, Rückfälle. Doch keiner dieser Versuche ist von Dauer.
Neuanfang auf dem Röthof: Der Weg zu Anerkennung, Stärke und Nüchternheit
Erst als er auf den Röthof kommt, beginnt sich etwas zu verändern. Zum ersten Mal kann er zur Ruhe kommen, fängt an, sich selbst zu spüren. Heute sagt Uwe: „Ich habe hier oben endlich mein Zuhause gefunden.“ Zum ersten Mal in seinem Leben bekommt er Anerkennung. Zum ersten Mal hat er eine Aufgabe. Er macht Frühstück für die anderen Bewohner, ist Mitglied im Heimbeirat, kümmert sich auf dem Bauernhof um die Gänse und Schafe. Die Tiere bedeuten ihm alles. „Tiere müssen es doch auch gut haben“, sagt er. Und man glaubt ihm. In ihrer Abhängigkeit von ihm findet er etwas wie Sinn.
Nicht zu vergessen sein Engagement im Hofcafé. Jeden Sonntag strömen die Gäste auf den Röthof, um sich ein Stück hausgemachten Kuchen zu gönnen. Uwe ist der Hefeteig-König. Bei diesem Lob huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
Vieles von dem, was der 61-Jährige erlebt hat, sitzt noch tief in ihm. Doch inzwischen gelingt es ihm immer mehr, sich mitzuteilen. Die Gespräche mit der Psychologin helfen.
Seit kurzem geht er regelmäßig in den kleinen Kraftraum der Einrichtung. Es ist ein neuer Ort für ihn, einer, an dem er sich selbst spürt – nicht im Rausch, sondern durch eigene Kraft. Zudem trifft er sich hin und wieder mit zwei ehemaligen Bewohnern des Röthofes, mit denen sich inzwischen eine gute Freundschaft entwickelt hat. Männer mit einer ähnlichen Geschichte. Da muss man sich nicht erklären. Diese Verbindung bedeutet ihm viel.
Und dann ist da noch der Fußball. Uwe ist ein leidenschaftlicher Fan von Rot-Weiß Erfurt. Die Spiele sind für ihn etwas Heiliges. Kürzlich war er im Stadion – und kam trocken zurück. Kein Bier, kein Tropfen Alkohol. Für Uwe ist das ein riesiger Erfolg. Etwas, worauf er stolz sein kann. Ein Moment, in dem er merkt: Es geht. Es ist möglich. Uwe Clemens möchte bleiben. Auf dem Röthof. Vielleicht bald in die Außengruppe ziehen, ein Haus weiter oben. Große Träume hat er nicht. Nur diesen einen: nüchtern bleiben. Jeden Tag schaffen. Mit seinen Tieren. Mit Struktur. Mit einem Stück Selbstachtung.
Was wäre gewesen, wenn jemand früher hingeschaut hätte? Wenn Schule, Jugendhilfe, Gesellschaft ihm eine Hand gereicht hätten? Vielleicht wäre alles anders gelaufen. Aber Uwe Clemens lebt nicht in der Welt von „was wäre wenn“. Er lebt im Jetzt. Und endlich fühlt sich das nicht wie Überleben an, sondern wie Leben.
Susann Schönwald, Südthüringer Zeitung
Foto: Michael Bauroth